Meine Welt und die Behindertenhilfe in Deutschland

Hier schreibe ich aber vollkommen privat und fern meiner Ämter. Hier wechsle ich mal meinen Hut und hier bin ich Mutter und schreibe davon, wie es sich auswirkt, Mutter eines Kindes zu sein, dessen Lebensweg im Endeffekt immer wieder von dem Wohlwollen der Gesellschaft abhängt.


Aus aktuellem Anlass und zur Situation (nicht nur) in Unterfranken zum Thema Wohnen für Menschen mit individuellem, höherem Hilfebedarf:


Inklusive Welten oder ein Leben in der Realität


Der akute Fachkräftemangel ist in aller Munde. Wir beschäftigen uns damit, weil uns dieser Mangel in vielen Bereichen unseres Lebens tangiert. Wir ärgern uns, dass man so lange auf freie Termine bei den Handwerkern warten muss, dass sich die Lieferzeiten für Waren immer weiter nach hinten verschieben und wundern uns öfter mal über die leeren Regale im Supermarkt. Die Oma meinte neulich, dass in ihrem Altenwohnheim immer mehr Zimmer gar nicht mehr besetzt würden und es sei recht ruhig geworden. Von anderen hört man immer wieder, dass es wohl besser sei, nicht krank zu werden oder am Ende auch noch in ein Krankenhaus zu müssen. Es solle dort schrecklich zugehen. Dazu werden wir täglich mit teilweise beunruhigenden Nachrichten konfrontiert. Krieg in Europa, Teuerungsrate, Inflation, nicht zu vergessen der Dauerbrenner Heizung. Irgendwie scheint die Welt durch die Corona Krise aus den Fugen geraten zu sein. Eigentlich, so meint man, sei doch aber alles wieder wie zuvor. Man kann wieder raus, unter Leute gehen, Konzerte besuchen und sich mit Freunden und der Familie treffen. Gut, in der Stadt stehen viele Geschäfte leer, aber insgesamt geht es uns doch wieder gut. Nein, ein Trugschluss. Zumindest nicht für alle Personengruppen. Denn z. B. verzweifeln gerade Eltern und Angehörige von erwachsenen Kindern mit Behinderung oder auch von Kindern mit hohem Hilfebedarf gerade zusehends. Mit Corona verschwanden ihre Gesichter und ihre Stimmen verstummten schlagartig. Sie wurden einfach mit ihren Sorgen und Nöten vielfach vom System übersehen oder nicht mehr wahrgenommen. Der Fachkräftemangel im pflegerischen und Betreuungsbereich hatte sich bereits vor Corona abgezeichnet. Die Pandemie mit ihren Auswirkungen auf das Personal in der Pflege hat das Problem am Ende nur gepusht. Wie man im Main Echo vom 30.06.2023 lesen konnte, kämpfen nun bereits in Unterfranken Eltern von erwachsenen Kindern mit höherem und hohem Hilfebedarf um das Überleben einer Wohneinrichtung. Sind wir schon am Ende angekommen oder wird sich die Behindertenhilfe bewähren können?  


Auf dieser Seite könnt ihr in meine Realität und sozusagen hinter die Kulissen schauen. Vor über 30 Jahren habe ich mein Kind zur Welt gebracht. Es wurde mit einer angeborenen Toxoplasmose geboren und zeigt ein komplexes Behinderungsbild. Epilepsie, Blind, Spastik.....all das sind keine Fremdwörter für mich, sondern die Realität, mit der mein Kind und ich seit 1990 konfrontiert sind. Manchmal tut es immer noch unendlich weh und auch ich kann auch immer noch weinen. Darum habe ich bis jetzt auch noch nicht resigniert, oder auch gänzlich aufgegeben. Im Ehrenamt bin ich seit vielen Jahren in der Selbsthilfe unterwegs.  

Wie man am Ende eines Tages auch mal erkennen kann, dass wieder einmal die Bürokratie lächelnd auf einen herabblickt und ihre Grenzen setzt. Dass auch ich nach Jahren, mir immer mal wieder die Frage stelle, was wäre eigentlich aus dem Kind geworden, wenn doch alles normal gelaufen wäre? Vielleicht kennt ihr das ja auch. Ich bekam die Chance, bereits vor der Geburt zu wissen, was auf mch alles zukommen könnte und würde und damit auch Zeit, mich mit der Realität im Vorfeld auseinanderzusetzen. Nach vielen Jahren der Förderung, der Zuwendung, dem Gebrauch von Hilfsmitteln, den monatelangen Aufenthalten in Einrichtungen der stationären, medizinischen Versorgung, wurde aus meinem Kind immerhin doch auch ein überwiegend glücklicher Mensch. Es kann auch so viel mehr, als jede Prognose im Vorfeld vorraussagte. Eigentlich könnte es ein schönes, beschützendes Leben und vor allem mit dem Recht auf Teilhabe führen. Eigentlich!!!! Es gibt aber ein großes ABER und es stellen sich (nur mir?) zunehmend viele Fragen. 


Die Frage nach dem Lebensrecht? 

Die Frage nach dem ungeteilten Recht auf Inklusion und Teilhabe?

Die Frage nach dem Recht auf umfassende, medizinische Versorgung?

Die Frage nach dem Recht auf die Sicherung der Rechte, die eigentlich das Grundgesetz für jeden Menschen vorhält?


Mein Bauchgefühl verweist mich auf die Realität. Diese schlägt sich in der Kategorie, oder dem Klientel, (grotesk ausgedrück) der mein Kind zugeordnet wird, als erstes nieder. In meinen Augen und vor allem in meiner realen Welt als Mutter, entwickelt sich gerade das Gefühl, oder mir kommt es so vor, als ob man die Behindertenhilfe von unten her unter dem Deckmantel Inklusion abzubauen beginnt und nach oben mit vielen Versprechungen weiter ausbauen möchte. Die Selbstvertreter fordern zurecht und man kann sie nicht überhören, nach der Umsetzung ihrer zugesagten Rechte. Was aber mit den Betroffenen, die sich eben nicht selbst vertreten können, die aus dem Blickwinkel der Behindertenhilfe zunehmend verschwinden und deren Eltern eigentlich ihre Stimme verlieren, oder vielleicht besser ausgedrückt, deren Stimme zunehmend zum Verstummen gebracht wird? Wo bleibt da eigentlich die Lobby? 

Menschen mit hohem Hilfebedarf Ohne Gesicht und Stimme


Nein, ich bin viel zu sehr Realist und durch die vielen Jahre auch viel zu sehr in der Materie drin, und ich wehre mich vehement dagegen, dass ich  als unzufriedene und am Ende jammernde Mutter hingestellt werde. Und nochmal nein, ich bin auch viel zu sehr Realist und sehe mich im Alltag viel zu sehr mit zunehmenden Problemen in der Versorgung von Menschen mit hohem Hilfebedarf in meinem direkten Umfeld konfrontiert, als dass zu mir jemand sagen könnte, mein Aufbegehren wäre mit dem Verständnis zu versehen, dass ich ja emotional betroffen sei! Für mich ist es nicht mehr akzeptabel, bzw. hinzunehmen, wie Verantwortliche aus Politik und Gesellschaft das Geld mit vollen Händen teilweise freigeben, aber da wo es um die Lebensqualität von Menschen geht, eher zum Sparen zwingen, als dass zwingend notwendige Gelder zum Leben und mittlerweile Überleben freigegeben werden. Das Wohnheim der Behindertenhilfe, Heimat und Zuhause meines erwachsenen Kindes kämpft gerade ums Überleben und steht vor der teilweisen Schließung. Das ist die Realität im Jahr 2023 in Deutschland! 


Deutschland im Juni 2023


Behindertenhilfe in Deutschland: Eltern von Kindern mit Behinderung verzweifelnd zusehens. Sie werden einfach mit ihren Sorgen und Nöten vom System übersehen, oder bewusst nicht wahrgenommen. Wie stellt sich denn unser Sozialsystem dem riesen Problem künftig gegenüber auf? Wie man in einer Tageszeitung lesen konnte, kämpfen auch in Unterfranken gerade Eltern von Kindern mit höherem und hohen Hilfebedarf um das Überleben einer Wohneinrichtung in Aschaffenburg.
Wie ein Damokles Schwert schwebt die drohende Kündigung über den Köpfen der Eltern und Angehörigen und ihrer zu Betreuenden. Einen großen Teil ihres Lebens haben die Eltern für ihre Kinder alles möglich gemacht und selbst auf vieles, also auch auf ein normales Leben verzichtet. Jetzt sind sie selbst alt, teilweise pflegebedürftig, mittlerweile auch bereits alleine in der Sorge, oder auch Angehörige, da die Eltern schon verstorben sind. Oftmals ist es nur eine kleine Rente, denn neben der Pflege war kein zweiter Verdienst möglich. Bevor das Pflegegeld eingeführt wurde, gab es kaum zusätzliche Hilfen und meist floß das ganze Einkommen in die Pflege und Betreuung. Jetzt, wo Eltern endlich das Vertrauen und das Loslassen geschafft hatten, steht die Behindertenhilfe vor einem sehr großen Problem. Man hat all die Jahre nicht bedacht, dass Menschen mit Behinderung mittlerweile auch älter werden können und dürfen, oftmals sogar das Rentenalter erreichen. Wohin mit den Menschen, wenn die Eltern dann gar nicht mehr können? Ist es nicht die Aufgabe unseres Staates, auch für diese Menschen bis an das Lebenende zu sorgen?
In der Ausgabe vom Mai des VDK`s gibt es auch einen Beitrag dazu und bestätigt die desolate Lage, in der sich Deutschland befindet. Eltern von jungen Menschen mit Behinderung klagen über Absagen und Kündigungen. Das VDK hat ein Beratungstelefon eingerichtet und bekommt viele Anrufe.
Es geht nicht darum, dass man sein Kind loswerden möchte. Es geht auch darum, dass man selbst weiß, wann man nicht mehr allem gerecht werden kann. Wenn man nicht mehr immer nur parat stehen kann, weil man selber in all den Jahren über das Limit gegangen ist. Weil man nicht wie andere,irgendwann an dem Punkt angekommen war, dass das Kind groß ist und ein neues Leben beginnt. Nein, es beginnt nicht, denn es hört nie auf. Wir werden immer wieder daran erinnert, dass wir abhängig vom System sind. Dass wir alle 6 Monate neu Unterlagen zum Überprüfen des Anspruchs auf Grundsicherung darlegen müssen, dass wir jedes Jahr neu Anträge stellen müssen, wollen wir Entlastungsleistungen über die Pflegekasse beziehen. Unsere Kinder könnten es gar nicht ohne Unterstützung, denn sie sind hilflos. Dass wir selber permanent und rund um die Jahr zur Verfügung stehen müssen, sollte es zu Notfällen kommen. Dass wir nicht den Traum einer Zeit nach der Erwerbstätigkeit vor uns haben, sondern dass wir nicht immer diesen Abschnitt im Leben genießen dürfen. Dieses, jetzt denke ich mal mich. Nein, dass gibt es nicht für Eltern von Kindern mit hohem Hilfebedarf. Wir bleiben bis zum letzten Atemzug in einer großen Verantwortung. Und heute wie in den 70 ziger und 60 ziger Jahren und zunehmend wird es wieder mehr, möchten wir da nicht einen Tag länger leben, als unser Kind mit hohem Hilfebedarf? Möchten wir das aber wirklich? Stellt sich nicht die berechtigte Frage, für die wir uns auch nicht schämen müssen, ob wir nicht auch das Recht haben, mit der Rente noch einmal ein Leben führen zu dürfen, ohne permanent in einer 24 Stunden Bereitschaft leben zu müssen? Eigentlich ist es auch das Recht auf Freiheit. Für diese hohe Gut der Freiheit müssen wir im eigenen Land aber zunehmend kämpfen und momentan sieht es aus, als ob wir diesen Kampf nicht, oder nur bedingt noch gewinnen können.

Nachdem ich 2023 vehement für das „nicht“ vergessen der Menschen mit hohem Hilfebedarf im Einsatz war, mit allen Kräften für den Erhalt und die Plätze am Bayerischen Untermain gekämpft habe, hat es mich sprichwörtlich im Februar von den Beinen geholt. Das Gillian Barrée Syndrom hat meine Stimme vorerst verstummen lassen. Ich kann nicht mehr laufen. Ein Perspektivenwechsel in Vollendung. Ich bin verstummt, verzweifelt und tausche Krankenhaus mit Reha im Wechsel. Ob es ein Zurück in die Behindertenhilfe für mich geben wird, liegt nicht in meinen Händen. Wohl gebe ich alles, trainiere, aber es fehlt die Kraft. 


Flächendeckend trennen sich Träger von den in der Unterbringung „teuren“ Menschen mit hohem Hilfebedarf. Für sie findet sich auch am schlechtesten das Personal. Sie fliegen aus den Einrichtungen und Eltern verzweifeln. Auch die Frage nach dem „wohin“ mit ihnen, bleibt zunehmend unbeantwortet. 

Alles Geld fließt in die Selbstvertreter und diese verdrängen  (unbequeme) Eltern aus dem System. Eltern, ohne denen sie vielleicht nie eine Chance gehabt hätten. Deutschland kann sich damit dann auch gut in der Entwicklung der Inklusion beweisen. So wirklich schaden tut es der Inklusion auch nicht, wenn die Menschen mit hohem Hilfebedarf nicht mehr mitkommen. Man hört sie nicht mehr aus der Menge groß heraus, denn ihr verlässliches Sprachrohr, ihre Eltern und Angehörige, verstummen ja und haben auch nicht mehr die Kraft für einen zusehends aussichtslosen Kampf. So wie ich. Darüber muß und darf man reden, denn die Selbstvertreter dürfen und tun es auch. Sie werden finanziell großzügig unterstützt und aufgebaut. Sie wollen und dürfen mitreden, genau wie Eltern, die ihre Kinder versorgen, betreuen und eine Heimat geben. Wie Eltern, die gemeinsam mit Tom Mutters, überhaupt den Grundstein für die Versorgung in Deutschland ermöglicht haben. Ich erlebe gerade den Perspektivenwechsel mit Macht und ich hoffe, dass ich in doppelter Funktion geschätzt werde. Und die Frage zum Schluss, wie geht es jetzt mit meinem Kind weiter, wenn der Rollstuhl mein Zuhause bleibt? 


 

 

 

Seelengedanken auf Reisen durch das Leben Ein Koffer voller Seele